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Di, Apr

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Von Kirchen in Dörfern oder: »Stuttgart 21« und Heidegger

Design Kunst
Gegen den Abriss von Teilen des Stuttgarter Hauptbahnhofs demonstrieren regelmässig Zehntausende. Wo war der Bürgerprotest gegen den Bauwirtschaftsfunktionalismus der 1960er und 1970er Jahre? Foto: AZ/Architekturzeitung'

Vor kurzem war in der »Süddeutschen Zeitung« ein interessanter Artikel zu lesen. »Hauptbahnhof Heidegger« hieß der kurze Text, den der in Bamberg lehrende Philosoph Christian Illies zum aktuellen Protest gegen das Bauprojekt »Stuttgart 21« schrieb. Sehr richtig beginnt der Autor damit zu fragen, wo der Bürgerprotest gegen den Bauwirtschaftsfunktionalismus der 1960er und 1970er Jahre war, der unsere Welt (und nicht nur die deutsche) maßgeblich negativ beeinflusst hat.

Welcher Baugeschichtsbuch-Leser hat sich nicht schon gegruselt beim Anblick einiger Entwürfe aus den 1920er und 1930er Jahren, als »Brutkästen« geplant wurden, die Transistoren oder Widerständen auf einer Elektroplatine gleich, einen Menschen zurichten sollten auf sein »Gelebt-werden« (1) im Zuge der »uneigentlichen« (1) Ermächtigung des »man« (1) einer sich abzeichnenden Industriegesellschaft.

Wohlgemerkt, war der Ästhetik-GAU seinerzeit mit den besten Vorsätzen argumentiert, denn es ging um Luft, Licht und Sonne für jeden, also um »soziale Gerechtigkeit«… (Hier ein schöner Artikel aus dem Goethe-Institut zum Thema: »Entwicklungsfähig: Weltkultur Wohnblock«). Mit dem Zitat: »…Martin Heidegger, dessen Einfluss auf die Philosophie der Architektur kaum überschätzt werden kann…« hat der Autor vollkommen recht, wenn er langsam auf den Kern seines Textes zuläuft. Dieser Kern verdeutlicht sich mit einer bedeutenden Stellung der Baukunst bzw. ihrer »Sinn-Offerte« für die Menschen, also einer imaginären Dimension der geformten Architektur – soll heißen, es zeigt sich, was gebaut werden will.

Heutzutage stellt man sich freilich die Frage, wer darüber entscheidet, was gebaut werden - respektive sich zeigen - will. Kaum ein Investor fragt sich, was die Architektur den Menschen zu geben vermag; er wird sich eher für vermietbare Flächen und Renditen interessieren. Manchmal kommt es vor, dass sich ein Geldgeber mit einer zeitgemäßen und imagefördernden Idee schmücken will - dann spricht man vielleicht von »Corporate Architecture« und verkleidet Kommerz mit einem Authentizitätsanspruch.

Bezeichnend ist auch, dass heutzutage wie selbstverständlich von Investoren gesprochen wird und nicht mehr von Bauherren oder Auftraggebern. Eine nebulöse Gruppe von Entscheidungsträgern baut und keine einzelne Person. Verantwortlich für die Wirkung des gebauten Ergebnisses ist dann natürlich auch nur eine ungreifbare Gruppe, die verschmolzen ist in einem Wirkungsgefüge, das sich selbst genügt.

Es zeigt sich also der »Zeitgeist«, der irgendwie unsichtbar und trotzdem allmächtig zu sein scheint. Um noch einmal mit Heidegger zu sprechen: »Man« (1) baut eben heutzutage so.

Bevor nun aber eine Abrechnung mit der »kapitalistischen Weltordnung« aufdämmert, sollte der geneigte Leser noch einmal an den Beginn dieses kleinen Gedankenganges zurückspringen und sich daran erinnern, dass auch im Bauwirtschaftsfunktionalismus der 1960er und 1970er Jahre der Zeitgeist mitschwang - und dieser war nicht primär kapitalistisch, sondern eher sozialistisch eingefärbt. Wer im Glashaus eines kulturellen Konstruktivismus sitzt, sollte sich also auch hier hüten, mit Steinen zu werfen.

»Hat das technisch Machbare noch einen Sinn und Nutzen oder wird es zu einem Selbstzweck?«. Christian Illies fragt hier merkwürdig unentschiedenen, denn die Worte »Sinn« und »Nutzen« entstammen genuin dem technischen Denken, das auf Effizienz, Logik und Rationalität gegründet ist. Die Frage, ob technisch Machbares Sinn und Nutzen hat, scheint daher keine Alternativen anzusteuern und kaum beantwortbar zu sein.

Oder markiert der Autor hier den großen Bruch mit der technologischen Zurichtung des europäischen Menschen? Um mit Heidegger zu denken, das Ende der »verborgenen Macht «, die das Verhältnis des Menschen zu dem, was ist, bestimmt?: »…Die Natur wird zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie. Dieses grundsätzlich technische Verhältnis des Menschen zum Weltganzen entstand zuerst im 17. Jahrhundert und zwar in Europa und nur in Europa (…). Die in der modernen Technik verborgene Macht bestimmt das Verhältnis des Menschen zu dem, was ist. Sie beherrscht die ganze Erde…« (2)

Wo also sind die Alternativen verortet, die am Ende des Widerstandes gegen »Stuttgart 21« stehen? In Natursehnsucht oder Kleinstadtidyll vielleicht? Oder geht es um den Widerstand an sich, um die Wehr gegen die finanzkräftigen Vollstrecker des aktuellen »man« (1)? Werden überhaupt Alternativen markiert? Dämmert also etwas Grundlegendes auf, das auf ein »eigentliches« (1) , wahrhaft selbstbestimmtes Subjekt deutet? Nur dann käme man weiter mit einer fundamentalen Betrachtung, die sich am frühen Heidegger orientiert. Nur dann könnte dem »Gerede« (1) ein Schnippchen geschlagen werden.

Im Regen lässt uns der große deutsche Denker nämlich nicht stehen. Er bietet vielmehr in seinem Spätwerk mit dem, was »Gelassenheit« meint, einen Weg aus der Misere des »man«. Das, was sich in der Technik zeigen will, hat seinen Rang und seine Würde. Es mag kollidieren mit tradierten Sehnsüchten nach Überschaubarkeit, nach Bodenständigkeit und Solidität, aber es ist dennoch relevant.

»Dass« solches passiert, hat also seinen Wert: »… die Gelassenheit zu den Dingen und die Offenheit für das Geheimnis gehören zusammen. Sie gewähren die Möglichkeit, uns auf eine ganz andere Weise in der Welt aufzuhalten. Sie versprechen uns einen neuen Grund und Boden, auf dem wir innerhalb der technischen Welt, ungefährdet durch sie, stehen und bestehen können…« (3)

Zum Schluss sollte noch einmal das »Gerede« in dem Blick kommen. Das nämlich, was dem »Stuttgart 21«-Medienkonsumenten aufgetischt wird, ist nichts anderes. Es ist der sonore wie betäubende Klang eines »Gelebt-werdens« (1) im Heideggerschen Sinne. In-formiert-sein spricht aus sich selbst, denn es geht um das in die Form bringen (nicht zuletzt) der Empfänger. Mit einer gehörigen Portion Skepsis sollte man also die Berichterstattung verfolgen, denn wer kann mit Bestimmtheit sagen, nicht einer Inszenierung, einer medialen Konstruktion zu erliegen? Zeigt sich hier wirklich etwas Fundamentales oder nur die rührige wie telegene PR-Arbeit einiger Aktivisten?

Die Diskussion pro und contra »Stuttgart 21« scheint eine pragmatische, rationale, logische zu sein. Es geht um Arbeitsplätze, Infrastruktur, Stadtentwicklung, Verkehrsentlastung, europäische Mobilitätskonzepte, Baumbestandsschutz etc. (Hier eine übersichtliche Aufstellung der Argumente).

Die Debatte bewegt sich damit im Spielfeld des Zeitgeistes, nicht mit dem Blick auf denselben und erst recht nicht in Abhebung von ihm. Eine intellektuelle Kirche sollte also in diesem Fall im Dorf bleiben und Martin Heidegger erst dann auf die Kanzel bemüht werden, wenn die Zuhörer das »Gerede« leid sind und die nötige »Gelassenheit« um sich greift.


Anmerkungen
1. Die gekennzeichneten Begriffe sind aus einer der Heideggerschen Schlüsselschriften, die für philosophieinteressierte Architekten zur (freilich nicht mühelosen Lektüre) empfohlen werden kann: Heidegger, Martin: » Sein und Zeit«; Gesamtausgabe Band 2; Frankfurt am Main 1977
2. Heidegger, Martin: Gesamtausgabe Band 16; Frankfurt am Main 2000; S. 523
3. Ebd.; S. 528

Autor: Christian J. Grothaus, Architekt und freier Autor mit Fokus auf Musik, Philosophie, (Bau-) Kunst und Ästhetik, www.logeion.net, www.grothaus-pr.de

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