Das wahre Zentrum Karlsruher Museumsinnovation befindet sich am perspektivischen Fluchtpunkt der Fächerstadt, im Schloss, das vom Badischen Landesmuseum genutzt wird. Bei den Jüngeren und Medienaffinen bekannt geworden ist das Schloss als Projektionsfläche der Karlsruher Schlosslichtspiele, die erstmals zum 300jährigen Stadtgeburtstag 2015 auf den Fassaden stattfanden. Die Museums-Revolution hat im Kellergeschoss des Museums begonnen. Eckart Köhne, Archäologe und Museumsdirektor, empfängt in seinem Büro. Hinter seinem Schreibtisch weist der Zeigefinger Kaiser Konstantins vielsagend in den Himmel. Es ist eine Replik des Originals aus dem Capitolinischen Museum am Forum Romanum in Rom, ein Exponat aus einer der vielen Ausstellungen, die Köhne zur Antike organisiert hat. Das Ausrufezeichen ist gesetzt. Wir gehen in den Keller.
Dort haben Köhne und seine Leute gerade die Expothek eingerichtet. Expothek, das klingt erst mal wenig aufregend. Aber wider Erwarten verbirgt sich hinter dieser technisch-nüchternen Namensgebung die Wiedergeburt der fürstlichen Wunderkammer für die Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts. Aus Kunst- und Wunderkammern hat sich das Museum, wie wir es heute kennen, entwickelt.
In den historischen Wunderkammern baumeln Skelette oder ausgestopfte Tiere von der Decke, in Karlsruhe sind es jetzt Kopfhörer und VR-Brillen, die in digitale Welten eintauchen lassen und in animierten Renderings zeigen, wie und wozu historische Werkzeuge, Kultobjekte, Schmuck oder Kleidung von Nutzen waren. Wer abwinkt und den inzwischen üblichen digitalen Games-Kitsch vermutet, ist bei Köhne schief gewickelt. Denn alle Objekte sind verknüpft mit den Original-Exponaten, die einen Raum weiter gezeigt werden.
Das Ambiente gleicht hier eher einer Apotheke oder einem modernen Optikerladen. An den Wänden entlang Vitrinen, in denen die Objekte gezeigt werden. Diese Objekte können mit dem Tablet gescannt werden, man klickt sich auf Hintergrundseiten durch, auf denen das Museum alles erzählt, was die Wissenschaftler bisher herausgefunden haben. Sammeln, Bewahren, Forschen, diese Kernaufgaben des Museums befinden sich allzu oft unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle. Wie bei einem Eisberg schaut nur die Spitze heraus, die Blockbuster-Ausstellungen eben, die die Herzen der Mittelzuwender höher schlagen lassen. Köhne findet erstmals – kann man sagen – eine Form, die Kernaufgaben ins Zentrum zu rücken. Das ist keine Evolution sondern eine Revolution, die sich auf keine Vorgänger berufen kann. Das Museum landet im 21. Jahrhundert der Digitalen Moderne.
Einzelne Objekte in den Wandvitrinen sind besonders gekennzeichnet und diese Exponate, dürfen von den Besuchern angefasst werden. Ähnlich einer Bibliothek werden diese Exponate den Besuchern von einem Explainer vorgelegt. Mit Handschuhen dürfen sie das römische Öllämpchen, die Fibel oder das keltische Schwert in die Hand nehmen, es wiegen und wägen und unter fachkundiger Betreuung von allen Seiten betrachten. Digitalisierung führt hier, in diesem Museum 5.0 nicht zu faden Placebo-Angeboten sondern bringt die interessierten Besucher dahin, selbst mit den Exponate umzugehen wie die Wissenschaftler bei der Entdeckung und Objektbeschreibung.
Darüber hinaus bietet die Expothek die Möglichkeit, das Objekt scannen zu lassen und ein Digitalisat herzustellen. Geholfen haben hier die IT-Leute des Fraunhofer Instituts für Graphische Datenverarbeitung (IGD). So werden nicht nur die Voraussetzungen dafür geschaffen, die Objekte via 3D-Druck zu replizieren, hier ergeben sich Möglichkeiten für Forscher aus aller Welt, Zugang zu den gescannten Objekten zu bekommen und sie zumindest am Bildschirm von allen Seiten analysieren zu können. Aufwendige Reisen in die verstreuten Archive der Welt lassen sich vermeiden und Forschung wird für Studenten und Wissenschaftler aus der weniger wohlhabenden Welt erschwinglich. Wer eine vernünftige ‚Dekolonisierung’ will kann das nur begrüßen. Denn im Kern geht es um das Teilen von Wissen jenseits der Besitz- und Fürsorgeverhältnisse. Ein Schub für die Forschung wird möglich, wenn sich ganz neue Forschergruppen für die Erforschung der Museumsexponate interessieren und aus neuen Perspektiven Erkenntnisse zu Tage fördern können.
In der Expothek gibt es darüber hinaus Medientische, die zum spielerischen Lernen verführen oder Arbeitstische für Guides sind, die den Besuchern Exponatgruppen präsentieren oder auf denen Quiz-Programme ablaufen. Die Nutzer prüfen ihr eigenes Wissen und erweitern es spielerisch. Die Tische bilden die Brücke zu Games, die mit dem Internet verbunden werden können und dort neue Interessenten für die Expothek gewinnen. Der lange Arm des Museums reicht bis nach Hause.
Der eigentliche Clou der Expothek aber sind die Benutzerausweise, die sich die Gäste für den Besuch der Expothek ausstellen lassen. Mit diesen Karten, die an Kreditkarten erinnern, werden in der Expothek die einzelnen Leistungen abgefragt und angefordert, hier sammeln die Besucher ihre eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse und sie können sie an ihren Freundeskreis weitergeben und archivieren. So werden die Besucher auch Teil dieses Museums-Biotops und werden zu Botschaftern des Badischen Landesmuseums und seiner Expothek – wenn sie es ihnen denn gefällt.
Innerhalb weniger Wochen haben sich 900 Gäste angemeldet und für das Museum verwandeln sich auch die Besucher von unbekannten Wesen zu FreundInnen des Hauses. Die Besucherkarte als Tool soll es in einem nächsten Schritt sogar erlauben, seine eigenen virtuellen Ausstellungen zu kuratieren und das macht sie perspektivisch zu Mitarbeitern des Hauses. Künftig wird sich die Bewertung der Besucherströme ändern. Es zählen nicht mehr anonyme Besuchermassen sondern die Frage nach dem wieviele wird von der Frage nach der Qualität abgelöst. Gated Communities entstehen und die Museen werden zu Gatekeepern für alle, die wirklich wollen.
Die Köhne-Expothek ist ein Quantensprung für das Thema Digitalisierung des Museums. Es sind nicht nur Puristen, die in der Digitalisierung eher Parizipations-Kitsch und Infotainment-Ramsch sehen und deshalb große Vorbehalten gegen ein Verständnis des Museums als nostalgischer Exponate-Resterampe haben. In der Museumsszene beschränkt sich das Verständnis von der Digitalisierung allzuoft auf eine Art Zeitgeist-Opportunismus, der Museumspädagogik oder dem Marketing zeitgemäße Werbe- und Überzeugungsmittel an die Hand zu geben. In Karlsruhe wird der sensationelle Versuch unternommen, das Museum nicht durch digitale Formate zu substituieren oder gar zu ersetzen sondern auf eine neue höhere Stufe zu heben wie es sich der schwäbische Dialektiker Hegel kaum besser hätte wünschen können.
Ein solches Zentrum für Museumsinnovation passt zu Karlsruhe. Denn hier stehen die Naturkulturwissenschaften in höchster Blüte mit dem KIT und auch dem ZKM. Seit dem ersten Anthropozäniker Johann Gottfried Tulla, der die Rheinregulierung erfand und ins Werk setzte, gehört die Zukunft einer für Menschen gemachten Welt zur DNA der badischen Metropole, die ihr Potenzial mit großem Understatement eher unter den Scheffel stellt als damit aufzutrumpfen. Dabei hat die Stadt so viel mit Boston an der Ostküste gemeinsam. Dass Eckart Köhne auch Präsident des Deutschen Museumsbundes ist, dürfte dabei helfen, dass es vielleicht bald eine ‚Karlsruher Schule‘ gibt, die an einer Digitalisierung der Kulturinstitutionen nicht als Start-up-Bluff sondern in Wirklichkeit und ernsthaft arbeitet. Hier findet der von Monika Grütters proklamierte Neustart Kultur nicht nur als Lippenbekenntnis statt.
Das Museum erfindet eine Form, die mit den technologischen Möglichkeiten der Zeit Schritt hält. Die Expothek ist ein neues Paradigma in der Museumsgeschichte. Das Museum zieht mit den Bibliotheken gleich, in die die Besucher zum Wissenserwerb und auch zur Arbeit kommen, phasenweise sogar täglich, und nicht nur, wenn ihnen langweilig ist, Lehrer Zeit totschlagen müssen oder Touristengruppen bei Regenwetter untergebracht werden wollen.
Das Museum bekommt Anschluss an andere Kreativszenen und an die Wissensarbeiter der Universitäten. Das Museum öffnet sich und bietet sich an für Ideen und Konzepte von anderen, die mit den gesammelten und bewahrten Schätzen etwas anzufangen wissen für neue Stories, die sie ihren neuen Zuhörern erzählen wollen. Museen werden zu dritten Orten, an denen sich ähnlich Interessierte treffen und austauschen. Museen eben, Musentempel, die Freiräume schaffen in einer ansonsten eng getakteten und zunehmend algorithmisch gesteuerten Welt.
Ausweis beantragen. Auf nach Karlsruhe. Da fühlt sich Museum anders an.